Kaindy - der Garten Eden

„Super Berg! Aber: Achtung, Achtung und... Achtung, meine kleine Freund“ - diese Worte wiederholte Vladimir Birukov einige Male beim späten Bier auf dem Heliport Maida Adyr am Vorabend unseres geplanten Abfluges. Vladimir hat uns auf der zweitägigen Fahrt über geteerte und weniger geteerte Strassen (also eigentlich relativ holprige Strassen) begleitet. Erst beim erwähnten Bier haben wir herausgefunden, wer er eigentlich ist: Vladimir, 70 J., kirgisischer Russe, trägt den Titel eines Snowleoparden. Er ist damit eine alpinistische Grösse Kirgistans und zudem der Direktor der Reiseagentur, die unser Abenteuer in administrativer Weise unterstützt. Beeindruckt von dieser Person und seinen wenigen deutschen Worten trinken wir also spätabends unser Bier und hören ihm gespannt zu. Wir erfahren, dass er morgen auch mit uns ins Kaindytal fliegen wird, um sich das Gebiet einmal anzuschauen. Trotz seiner alpinistischen Karriere hat er dieses noch nie besucht und weiss nur von versuchten russischen Expeditionen, welche mit eher weniger erfolgreichem Ausgang Mitte der 90er Jahre stattfanden.

Anflug

Der Flug wird von 09:00 Uhr auf „maybe at 10 a.m. - 11 a.m“ verschoben. Pünktlich um 10:45 Uhr hören wir das bemerkenswerte Anfliegen unseres mächtigen nächsten Transportvehikels, ein russisch-sowjetischer MI8 Helikopter. Schnell sind unsere tausend Sachen (inkl. 60 roher Eier) (un)sanft im riesigen Bauch des Helikopters verschwunden. Der Flug ins Kaindy dauert gute 20 Minuten und wir kommen nicht aus dem Staunen heraus. Vladimir muss man fast zurückhalten, dass er nicht aus dem offenen Fenster fällt (ja, die Fenster des Laderaumes im MI8 kann man aufklappen!).
Der Helikopter dreht noch eine Schlaufe, setzt kaum merkbar auf dem aperen Gletscher auf. Unser Gepäck wird aus dem Heli geworfen, die Türe schliesst sich und wenige Sekunden später ist er unseren Blicken entschwunden. Erst jetzt merken wir, dass unsere direkten Nachbarn für die nächsten Wochen nur noch Jürg, Christof, Beat und Alex heissen. Nicht einmal ein Gletscherfloh verirrt sich hierher, wir sind „in the middle of fucking nowhere“...

Für das Aufstellen und Einrichten des Basecamps benötigen wir fast zwei Tage. Harte Schufterei beim Planieren, Steinebeigen für Windfang, Zeltbefestigen und WC-Basteln sowie die Höhe von ziemlich genau 4'000 m ü.M. zerren ordentlich an uns.

 

Akklimatisationstour

Am Sonntag, 16. August, montieren wir erstmals die Bergschuhe und starten bei bestem Wetter eine Erkundungstour in den südlichen Arm des Kaindygleterschs. Wir erreichen einen Pass auf 4'700 m ü.M.. Im T-Shirt werden eifrig Fotos gemacht und die Umgebung für mögliche Touren abgesucht. Bei näherer Betrachtung wird uns auch die Ernsthaftigkeit dieser Gegend bewusst. Riesige Hängegletscher und Wächten, messerscharfe und steile Firngrate sowie scheinbar brüchiger Fels stellen uns vor die Herausforderung, unsere Touren sehr genau auszulesen, um nicht Harakiri zu spielen... Vladimirs Warnungen sind in jeder Wächte und jedem Abbruch.

Schlumpf

 

Erster Gipfel: Der Trugberg

Für den nächsten Tag meldet unser Wetterprophet aus Gööttanne wieder bestes Wetter, was uns dazu bringt, am Montag gleich ein sehr ehrgeiziges Ziel in Angriff zu nehmen: Wir möchten mit unserer mageren Akklimatisation den höchsten Berg im Kaindy (~5'700 m ü.M.) erstbesteigen. Äusserst unsanft werden wir um 2 Uhr morgens in die bittere Kälte getrieben. Nach ein wenig verdrücktem Müesli und noch weniger Worten starten wir furzend in die leise Nacht. Jürg klagt über schwaches Kopfweh, Alex über einen unwohlen Bauch. Nach 1 h Gletscherlaaatsch Richtung Einstieg entscheiden wir, unser Ziel zu ändern und stattdessen einen ca. 5'100 m ü.M. hohen Gipfel anzusteuern. Die mögliche Linie haben wir ebenfalls am Vortag als interessant und sicher aus-gespiegelt. Zuerst müssen wir durch einen üblen Bruch auf ein oberes Gletscherplateu gelangen, um anschliessend über einen ca. 50° steilen und 300 m hohen Firnhang einen Sattel auf 4900 m ü.M. zu erreichen.

Alex am Klettern

Alex hat sich mittlerweile erholt. Wir nehmen den scheinbar kurzen Firngrat Richtung Gipfel in Angriff, nur noch 200 hm trennen uns vom Gipfel. Die Wächten sind massiv grösser als wir das erwartet haben und so queren wir mühsam die steilen und harten Flanken auf der Südwestseite. Über diverse Bergschründe und apere Flanken pickeln wir uns auf den Gipfel oder was wir davon für einen einigermassen festen Bestandteil halten. Die Gipfelwächte scheint auch hier riesige Ausmasse zu haben. Hochgefühle legen sich über uns, der erste Gipfel auf 5'170 m ü.M. ist erreicht und erst noch eine Erstbesteigung. Schnaufend das Panorama betrachten und dann zurück.

Zweimal an Eisuhren Abseilen, dann Abklettern bis auf das Gletscherplateu. Erleichtert und mit ein bisschen mehr Sauerstoff laden wir unsere Batterien und Furzaggregate mit Dörrfrüchten auf und stochern durch den Bruch zurück Richtung Basecamp. Jürg spielt dabei mutig den Spürhund und deckt erfolgreich mehrere schwache Schneebrücken auf...
Nach bereits 10h erreichen wir unser temporäres Zuhause und begiessen unseren Erfolg mit Bier und noch mehr Dörrfrüchten. Es wird ein lustiger Nachmittag...

Pausentag No. 1

Von üblen Düften begleitet, schlafen wir am nächsten Tag bis um 9 Uhr aus. Den Pausentag verbringen wir mit Bräunen, Brotbacken, Lesen und natürlich damit, ein weiteres Ziel für den morgigen Schönwettertag auszusuchen. Unsere acht Augen fallen auf die Felspyramide auf der Nordseite des BC. Die Rucksäcke werden diesmal vollgestopft mit Friends, Keilen, Schlaghaken und jeder Menge Reepschnur, dann geht es früh in den warmen Schlafsack.

 

Übler Bruch & Tourabbruch

Kurz vor Tagesanbruch stogeln wir über die Moräne quer über den Gletscher Richtung Zustiegsrampe. Seilfrei über Schutt empor bis auf den Vorbau. Dann kurze Verschnaufpause, Anseilen und los gehts. Wir suchen uns zuerst den Weg durch die Südwand, immer leicht rechtshaltend, Richtung Grat. Zunächst versuchen wir unser Glück, indem wir versuchen, durch einen weiteren Gerölltrichter endlich den Grat zu erreichen. In der Scharte verschlägt es uns die Sprache: Auf der anderen Seite geht es abartig „d Schiissi ab“. Leider versperrt uns ein (zu) schwierig erscheinender Gendarm den Weg. Zuerst werweissen wir hin und her, schliesslich geht es dann den Trichter retour. Weiteres Glück suchen wir durch eine kaminartige Rinne und erreichen wiederum den Grat unter einem weiteren Gendarm. Dieser wird erklettert und leider festgestellt, dass oberhalb übelster Bruch wartet. Nicht einmal Jürg kann sich hier wohlf(w)ühlen und macht sich wie wir die Hosen voll... Schweren Herzens aber aus Verstand entscheiden wir, hier nach einem Znüni umzukehren und abzuseilen.

An zwei Schlaghaken seilen wir 50m ab und finden uns im Schutt wieder. Das Zurückklettern über die Südwand ist dann kurzweilig und schnell geschafft. Weiteres Hinuntersurfen über die Zustiegsrampe und zurück über die Moräne ins BC. Etwas enttäuscht über den missratenen Versuch, aber dennoch mit dem guten Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen und immerhin eine Höhe von ca. 4'500 m ü.M. erreicht zu haben, verbringen wir einen gemütlichen Nachmittag auf unserer Sonnenterasse.

Pausentag No. 2

Am nächstem Tag ist wiederum Pause angesagt, wir brauchen deutlich mehr Erholung, als in unseren Höhengraden. Es ist so schön warm, dass wir uns im Gletscherbach zu entstinken und entfetten versuchen und wir wechseln sogar das erste Mal unsere Wäsche. Natürlich darf auch eine gepflegte Rasur nicht fehlen.

Wir verwirklichen uns abwechselnd in der Küche mit kulinarischen Ausschweifungen. So wird z.B. Käseschnitte relativ bald zum mehrmals täglich verspiesenen Standardsnack (unsere 12kg Käse und 14kg Mehl wollen schliesslich verdrückt werden). Über unserem BC trohnt der Hausberg (gemäss Karte 5'400 m ü.M.), von Vladimir als der „Super Berg“ bezeichnet. Von den letzten beiden Touren aus konnten wir eine schöne Linie über einen Ausläufer des Westgrates ausmachen.
Hausberg

 

Zweiter Gipfel: Der Super-Hausberg

Wir starten wiederum früh in eine sternenklare, kalte Nacht und wackeln über den vertrauten Gletscher dem Grat entgegen. Bei Tagesanbruch legen wir unser Geschirr an und klettern in den gewohnten Seilschaften den brüchigen, aber doch schönen Grat. Auf ca. 5'100 m ü.M. erreichen wir den harten Firn und gehen daher mit Pickel und Steigeisen weiter.
Beat

Wiederum über mehrere Schründe und steilen, manchmal sehr harten Firn auf den Gipfelgrat. Kurz darauf stehen wir zusammen auf dem höchsten Punkt. Nach 4.5h Aufstieg geniessen wir eine grandiose Rundumsicht auf die höchsten Berge vom Tien-Shan und haben direkte Sicht auf unser BC, direkt unter unseren Füssen. Bald darauf sind wir im Abstieg, klettern oder seilen ab und sind nach insgesamt 10h zurück beim Bier.

 

Tourabbruch No. 2 & Ankündigung der Schlechtwetterfront

Das Wetter scheint uns in den nächsten Tagen leider nicht so freundlich gesinnt zu sein, ziemlich viel Niederschlag ist ab Sonntag angekündigt. Deshalb möchten wir den Samstagvormittag noch nutzen und einen weiteren Gipfel versuchen. Als Ziel muss der Gipfel (ca. 5'100 m ü.M.) nordöstlich vom BC herhalten.

Am nächsten Morgen ist das Wetter bereits etwas getrübt, wir entscheiden uns mit müden Beinen noch 30 min liegen zu bleiben. Schlussendlich schaffen wir es, um 05:00 Uhr endlich loszutrotten. Auch hier müssen wir einen Weg durch eine riesige Spaltenzone finden. Wir üben uns im Weitsprung, um über die riesigen Löcher zu kommen. Tatsächlich schaffen wir es ohne Abflug und erreichen schlussendlich den Fuss eines steilen blanken Hanges, um über diesen den Sattel des Gipfelgrates zu erreichen. Die 200 hm fordern die Wadenmuskulatur aufs Gröbste. Auf dem Sattel angekommen, müssen wir ernüchtert feststellen, dass die Wächten hier unerkennbare Ausmasse haben und wir entscheiden uns darum, diesen Grat lieber sein zu lassen. Gestreckte 4x50m Abseilen und über das Gletscherbecken zurück in den Bruch Latschen folgen. Auf dem Rückweg machen wir einen alternativen Zustieg aus, um die gefährlichen Wächten umgehen zu können. Für heute leider zu spät, aber vielleicht ergibt es sich noch einmal? Das Wetter schlägt nun um und wir erreichen knapp trockenen Fusses das BC wieder.

 

Der Winter kommt

Über Nacht bringt ein Wettereinbruch für die nächsten Tage vorerst den Winter. Am Morgen dürfen wir jeweils das Lager von den 20-40 cm Neuschnee befreien. Anschliessend wird fleissig gejasst, getrunken und Käseschnitte in jeder möglichen Form verspiesen. Die Tage vergehen in einigermassen angenehmem Tempo, ein Lagerkoller hat bisher noch nicht eingekehrt. Glücklicherweise reisst das Wetter am späteren Nachmittag jeweils auf und wir können die notwendige Portion Sonne tanken, die Füsse wärmen und die feuchten Kleider trocknen...

 

Erkundungstour mit Blitz & Donner

Unser Wetterprophet hält uns fleissig auf dem Laufenden und so starten wir nach 3 Tagen Arsch-Flachsitzen am Mittwochmorgen, 26. August, in zwei verschiedene Richtungen zwei Erkundungstouren. Beat und Jürg nehmen eine mögliche Linie durch den markanten Südgrat des mächtigen Felsgrates nördlich des BC ins Visier, während Christof und Alex die Verhältnisse am Firngrat (oder auch Silberhorn des Kaindytals) auschecken wollen. Leider kommen beide Truppen nicht weit, nach knapp 2h zieht ein Gewitter auf, das uns beide überrascht. Abseilen im Schneesturm resp. Zurückirren bei null Sicht über den Gletscher. Anstrengende 2h später trinken wir wieder warmen Tee im Lager.

Bild Abseilen

Die Wetterkapriolen setzen sich fort, am Abend reisst es wieder auf die Sonne zeigt sich von ihrer besten Seite. Das Gewitter mit 30cm Neuschnee verhindert leider eine Tour am nächsten Tag, obwohl bestes Wetter herrscht. Es wird eifrig diskutiert, die Wetterprognose für die nächsten Tage verspricht gar nichts Gutes: Weiterhin viel Niederschlag. So entschliessen wir uns, den Rückflug auf Freitag, den 28. August, zu bestellen.

Abflug

Leider herrscht am vereinbarten Tag kein Flugwetter, wir hoffen trotz der schlechten Prognose auf Samstag. Der Druck steigt über Nacht und tatsächlich kriegen wir die Bestätigung für „be ready at 9 a.m. - 9.30 a.m.". Wir packen schnell zusammen und hören schon bald das vertraute Geräusch des Helikopters...